Über uns Stille by Morton Rhue

Über uns Stille by Morton Rhue

Autor:Morton Rhue [Rhue, Morton]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ravensburger Buchverlag
veröffentlicht: 2015-10-28T16:00:00+00:00


33

Mom kann aufrecht sitzen, wenn jemand sie stützt. Sie kann essen und trinken, wenn man sie füttert und ihr das Glas an die Lippen hält. Janet kümmert sich die ganze Zeit um sie und lagert sie mit Dads Hilfe immer wieder um, damit sie sich nicht wund liegt. Manchmal kniet Dad vor dem Bett und redet mit Mom, aber sie sitzt nur da und starrt mit leerem Blick vor sich hin.

»Kannst du es nicht mal versuchen, Scott?«, bittet Dad mich.

Ich zögere, weil ich Angst habe. Dabei weiß ich nicht einmal genau wovor.

»Komm schon«, sagt Dad. »Und du auch, Edward.«

Sparky beißt sich auf die Unterlippe. Er hat auch Angst.

»Vielleicht erkennt sie euch«, sagt Dad.

Sparky greift nach meiner Hand. Wir sehen Mom an. Mom sieht uns an, aber es ist, als würde sie durch uns hindurchschauen.

»Sagt etwas zu ihr«, fordert Dad uns auf.

»Hallo, Mom«, sagt Sparky mit zitternder Stimme.

Sie reagiert nicht.

»Mom?«, frage ich.

Keine Reaktion.

Sparky beginnt zu schniefen und Dad legt ihm einen Arm um die Schulter. Ich würde mich am liebsten auch in Dads Arme flüchten und weinen. Mir wird klar, dass es das ist, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte. Sie hat uns nicht erkannt.

Ich bin erleichtert, als Ronnie sich wortlos neben mich setzt. Wir wissen beide, dass das einer offiziellen Entschuldigung am nächsten kommt und das Äußerste ist, wozu er sich durchringen kann. Ich grinse zum Zeichen, dass ich die Entschuldigung annehme, und bin froh, dass er den ersten Schritt gemacht hat. Er drückt die Fingerkuppen unter die Nase wie ein Eichhörnchen, das eine Nuss knabbert, und zuckt mit den Nasenflügeln. Dann beugt er sich zu mir rüber und flüstert: »Ich fühle mich wie im Knast.«

Ich weiß, was er meint. Dieser winzige Raum mit den kahlen Betonwänden hat wirklich Ähnlichkeit mit einer Gefängniszelle. »Ich auch«, flüstere ich zurück. »Aber im Knast kriegen sie mehr zu essen.«

Die Erwachsenen runzeln die Stirn, als sie uns tuscheln sehen. Bis jetzt hat jeder laut ausgesprochen, was er denkt. Und obwohl Ronnie und ich nur Kinder sind, habe ich das Gefühl, dass von uns das Gleiche erwartet wird.

Dad schlägt vor, Gymnastik zu machen. »Wir müssen uns fit halten, für das, was danach kommt.«

»Aha. Und was glauben Sie, was danach kommt?«, fragt Mrs Shaw.

»Der Wiederaufbau«, antwortet mein Vater.

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das Leben jemals wieder so wird, wie es mal war?«, gibt Mrs Shaw ungläubig zurück.

»Die Zerstörung wird sich auf den unmittelbaren Einschlagbereich der Bombe beschränken. Alles, was außerhalb davon liegt, ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit unversehrt geblieben«, sagt Dad. »Sie werden sich noch wundern.«

Mrs Shaw schüttelt den Kopf. »Wovon wollen Sie sich ernähren, Richard? Sie können nicht mehr einfach im Supermarkt einkaufen gehen. Falls es da draußen überhaupt noch Supermärkte gibt, ist alles, was Sie darin finden, strahlenverseucht. Genau wie die Tiere, die noch nicht verendet sind. Es wird keinen Strom mehr geben und kein Benzin. Und wenn wir nicht verhungern, erfrieren wir eben oder sterben an der Strahlenkrankheit. Verstehen Sie nicht? Es ist alles zerstört worden. Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr.



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